Nahost

Wie der Jemen das Machtgefüge im Nahen Osten veränderte

Mit einem einzigen Handschlag hat der Jemen den Westen und seine sogenannte regelbasierte Ordnung schachmatt gesetzt. BRICS+ unterstützt den Jemen, der der Pax Americana mit einem einzigen Schachzug die Mutter aller geopolitischen Probleme beschert hat.
Wie der Jemen das Machtgefüge im Nahen Osten veränderte© The Cradle

Von Pepe Escobar

Egal ob es nun in Indien, China oder Zentralasien erfunden wurde, Schach gilt als ein asiatisches Spiel. Im Schach kommt es immer mal zu jenem Punkt, an dem ein einfacher Bauer das ganze Spiel durcheinander bringen kann, meist durch einen Zug aus der hinteren Reihe, und dessen Auswirkung einfach nicht zu berechnen ist. Ja, ein Bauer kann ein erdbebenartiges Schachmatt erzwingen. Das ist der geopolitische Punkt, an dem wir uns derzeit befinden.

Die kaskadierenden Auswirkungen eines einzigen solchen Schachzugs – der atemberaubenden und gezielten Blockade des Roten Meeres durch Ansar Allah im Jemen – reichen weit über die globale Schifffahrt, die Lieferketten und den Krieg der Wirtschaftskorridore hinaus. Ganz zu schweigen von der Reduzierung der viel gepriesenen Machtprojektion der US-Marine auf ihre Bedeutungslosigkeit.

Die jemenitische Widerstandsbewegung Ansar Allah – auch als Huthi bekannt – hat sehr deutlich gemacht, dass jedes mit Israel verbundene oder für Israel bestimmte Schiff abgefangen wird. Während sich der Westen als Angriffsziel sieht, ist sich der Rest der Welt völlig darüber im Klaren, dass alle Schifffahrtswege auch weiterhin frei passiert werden können. Russische Öltanker – ebenso wie chinesische, iranische und alle Frachtschiffe des globalen Südens – können sich weiterhin ungestört durch die Meerenge von Bab al-Mandab in das Rote Meer bewegen. Oder daraus hinaus.

Nur der US-Hegemon ist durch diese Herausforderung in seiner sogenannten "regelbasierten Ordnung" beunruhigt. Es ist empörend für den Westen, dass Frachtschiffe westlicher Reedereien daran gehindert werden, Energieträger oder Güter an Israel zu liefern, das gegen die Menschenrechte verstößt, und dass die Lieferketten unterbrochen wurden, was den maritime Handel in eine tiefe Krise gestürzt hat. Das Ziel der jemenitischen Vorgehensweise ist die israelische Wirtschaft, die bereits stark bluten muss. Ein einziger jemenitischer Schachzug erwies sich als effizienter als die Flut aller imperialer Sanktionen.

Es ist die verlockende Möglichkeit, dass dieser einzelne Schritt sich zu einem Paradigmenwechsel entwickeln könnte – zu einem ohne Wiederkehr –, der den Schlaganfall des US-Hegemons noch verstärken wird. Vor allem, weil die imperiale Demütigung tief in diesem Paradigmenwechsel verankert sein wird. Hinzu kommt, dass der russische Präsident Wladimir Putin eine unmissverständliche Botschaft verkündet hat: Vergesst den Suezkanal. Der Weg nach Asien führt über die Nordmeerroute – die von den Chinesen, im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China, als Arktische Seidenstraße bezeichnet wird.

Für die ahnungslosen Europäer haben die Russen drei Möglichkeiten in petto. Erstens: 15.000 Meilen um das Kap der Guten Hoffnung zu segeln. Zweitens: Russlands kürzere, schnellere und somit günstigere Nordmeerroute zu wählen. Drittens: Das Versenden von Fracht über das russische Eisenbahnnetz. Die Nuklearbehörde Rosatom, in deren Verantwortung die Nordmeerroute steht, hat betont, dass Frachtschiffe, die nicht der Eisklasse angehören, fortan den ganzen Sommer und Herbst hindurch diese Route befahren können und dass mithilfe einer Flotte nuklear betriebener Eisbrecher bald eine ganzjährige Schifffahrt möglich sein wird. All dies ist als eine direkte Folge des jemenitischen Schachzugs zu betrachten. Aber was kommt als nächstes? Wird der Jemen der Gemeinschaft der BRICS+ beitreten, im Rahmen des Gipfeltreffens in Kasan, Ende 2024, das unter russischer Präsidentschaft abgehalten wird? 

Die neue Architektur wird in Westasien zementiert

Die von den USA angeführte Armada, die man für die maritime Operation zusammenstellen wollte, und die man ohne Weiteres als "Operation zum Schutz eines Genozids" bezeichnen könnte, brach bereits vor ihrer Lancierung zusammen. Diese Operation sollte nicht nur dazu dienen, Ansar Allah einzuschüchtern, sondern auch dazu, den "Iran zu warnen". Aber genauso wie die Huthi lässt sich Teheran nicht einschüchtern, denn wie der Analyst Alastair Crooke es treffend ausdrückte:

"Das Sykes-Picot-Abkommen ist tot."

Dies bedeutet eine Quantenverschiebung auf dem globalen Schachbrett. Es bedeutet, dass die westasiatischen Staaten von nun an die neue regionale Architektur bestimmen werden – und nicht die Machtprojektion der US-Marine. Und das hat eine klare Konsequenz: Die elf US-Flugzeugträger-Einsatzgruppen sind praktisch wertlos geworden.

Jeder in Westasien ist sich nun bewusst, dass die Raketen der Ansar Allah in der Lage sind, Ölfelder in Saudi-Arabien und den Emiraten ins Visier zu nehmen und sie außer Betrieb zu setzen. Daher ist es kein Wunder, dass Riad und Abu Dhabi es niemals akzeptieren werden, Teil einer US-geführten Seestreitmacht zu sein, um den jemenitischen Widerstand herauszufordern. Hinzu kommt die Rolle von Unterwasserdrohnen, die sich jetzt im Arsenal Russlands und Irans befinden. Man denke bloß an fünfzig solcher Drohnen, die auf einen einzigen US-Flugzeugträger abzielen: Dieser verfügt über keinerlei Verteidigung dagegen. Obwohl die USA immer noch sehr fortschrittliche U-Boote haben, können sie die Meerenge von Bab al-Mandab und das Rote Meer nicht für westliche Reedereien offen halten.

An der Front der fossilen Energieträger müssen Moskau und Teheran nicht einmal darüber nachdenken, die "nukleare" Option zu nutzen – zumindest noch nicht – und mindestens 25 Prozent oder mehr der weltweiten Ölversorgung zu kappen. Ein Analyst vom Persischen Golf bringt es auf den Punkt:

"Das würde das internationale Finanzsystem unwiederbringlich implodieren lassen."

Für diejenigen, die immer noch entschlossen sind, den Völkermord in Gaza zu unterstützen, gab es zahlreiche Warnungen. Der irakische Premierminister Mohammed Shia' al-Sudani hat dies deutlich gemacht, während Teheran bereits ein umfassendes Öl- und Gasembargo gegen Länder gefordert hat, die Israel unterstützen. Eine sorgfältig geplante totale Seeblockade Israels bleibt eine durchaus geeignete Option. Der Kommandeur der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), Hossein Salami, sagte, Israel könnte "bald mit der Blockierung des Mittelmeers, der Straße von Gibraltar und anderer Wasserstraßen konfrontiert sein." Man bedenke, dass wir noch nicht einmal über eine mögliche Blockade der Straße von Hormus gesprochen haben und wir uns immer noch mit dem Roten Meer und der Meerenge von Bab al-Mandab befassen.

Denn wenn die Neokonservativen in Washington durch den Paradigmenwechsel wirklich aus der Fassung geraten und zu verzweifelten Taten greifen sollten, um dem Iran "eine Lektion zu erteilen", könnte eine kombinierte Blockade der Straße von Hormus und der Meerenge von Bab al-Mandab den Ölpreis auf mindestens 500 US-Dollar pro Barrel in die Höhe schnellen lassen. Dies wiederum würde die Implosion des 618 Billionen Dollar schweren Derivatemarktes auslösen und das gesamte internationale Bankensystem zum Absturz bringen. 

Der Papiertiger steckt im Stau

Mao Zedong hatte schlußendlich Recht: Die USA könnten tatsächlich nur ein Papiertiger sein. Putin ist jedoch wesentlich vorsichtiger, eiskalt und berechnender. Für den russischen Präsidenten geht es um eine asymmetrische Reaktion, die genau dann erfolgt, wenn niemand damit rechnet. Das bringt uns zur wichtigsten Arbeitshypothese, die möglicherweise das Schattenspiel erklären kann, das diesen einzelnen Zug der jemenitischen Ansar Allah auf dem Schachbrett verdeckt.

Als der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete investigative Journalist Seymour Hersh belegte, wie das Team von Joe Biden die Nord-Stream-Pipelines in die Luft sprengte, gab es keine russische Reaktion auf diesen Terrorakt gegen Gazprom, gegen Deutschland, gegen die EU und gegen eine Reihe europäischer Unternehmen. Doch nun stellt der Jemen mit einer einfachen Blockade die weltweite Schifffahrt auf den Kopf. Was ist also anfälliger? Die physischen Netzwerke der globalen Energieversorgung oder die Autorität von Staaten, die ihren Einfluss aus der Vormachtstellung zur See beziehen?

Russland räumt den physischen Netzwerken der Energieversorgung Vorrang ein – siehe zum Beispiel die Nord-Stream-Pipelines und die Power of Siberia 1 und 2 in Richtung China. Die USA jedoch, der Hegemon, haben sich immer auf ihre Seemacht verlassen, als die Erben von "Britannien beherrscht die Wellen." Nun ja, das ist vorbei. Und überraschenderweise war der Weg dorthin nicht einmal mit der "nuklearen" Option verbunden, der Blockade der Straße von Hormus, die Washington verrückt macht und mit der es Panikmache betreibt.

Natürlich werden wir keine eindeutigen Beweis finden. Aber es ist eine faszinierende Annahme, dass dieser entschiedene jemenitischer Schritt möglicherweise auf höchster Ebene zwischen drei Mitgliedern der BRICS-Staaten – Russland, China und Iran, der neuen "Achse des Bösen" – sowie zwei weiteren Mitgliedern der BRICS+ koordiniert wurde, von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das alles tut der Reinheit der jemenitischen Vorgehensweise natürlich keinen Abbruch. Die Verteidigung Palästinas ist ihre heilige Pflicht.

Der westliche Imperialismus und der dazu gehörende Turbokapitalismus waren schon immer davon besessen, den Jemen zu verschlingen – ein Prozess, den der Historiker Isa Blumi, in seinem großartigen Buch "Die Zerstörung des Jemens" wie folgt beschrieb:

"Die Jemeniten werden zwangsläufig ihrer historischen Rolle als wirtschaftlicher, kultureller, geistiger und politischer Motor für einen Großteil der Welt des Indischen Ozeans beraubt."

Der Jemen bleibt jedoch unbesiegbar und – getreu einem lokalen Sprichwort – "tödlich". Als Teil der Achse des Widerstands ist die jemenitische Ansar Allah heute ein Schlüsselakteur in einem komplexen eurasischen Drama, das die Konnektivität des Kernlandes neu definiert. Neben Chinas Belt and Road Initiative (BRI), dem von Indien, Iran und Russland geführten Internationalen Nord-Süd Transportkorridor (INSTC) und Russlands neuer Nordmeerroute, gehört auch die Kontrolle über strategische Meerengen rund um das Mittelmeer und die Arabische Halbinsel dazu.

Dies ist ein völlig anderes Paradigma der Konnektivität des Welthandels, das die westliche koloniale und neokoloniale Kontrolle über Afrika und Eurasien in Stücke reißt. Also ja, BRICS+ unterstützt den Jemen, der der Pax Americana mit einem einzigen Schachzug die Mutter aller geopolitischen Probleme beschert hat.

Zuerst erschienen in englischer Sprache bei "The Cradle".

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.

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