Meinung

Was ist Washingtons "Freundschaft" wert? Das energiearme Europa erfährt es gerade

Die US-Energieministerin Jennifer Granholm setzt Raffinerien unter Druck, den Export von Gas und anderen Treibstoffen an die europäischen Verbündeten einzustellen, obwohl diese derzeit unter Energieknappheit ächzen.
Was ist Washingtons "Freundschaft" wert? Das energiearme Europa erfährt es geradeQuelle: www.globallookpress.com © Chris Kleponis - Pool via CNP/Consolidated News Photos

Von Rachel Marsden

Es sieht so aus, als ob auch Europa jetzt an der Reihe ist, die Erfahrung zu machen, was Washingtons Versprechen wirklich wert sind – ein Hinweis im Voraus: Nicht viel. In einem Brief, der von der Redaktion des Wall Street Journal als "Mobbing" bezeichnet wurde, forderte die US-Energieministerin Jennifer Granholm, dass die wichtigsten Raffinerien für Erdöl des Landes in Zukunft davon absehen sollen, ihre Exporte zu erhöhen – und das zu einer Zeit, in der die Verbündeten der USA in der Europäischen Union (EU) händeringend nach alternativen Energieimporten suchen.

"Angesichts des historischen Niveaus der US-Exporte raffinierter Erdölprodukte fordere ich erneut dazu auf, sich kurzfristig auf das Aufstocken der Lagerbestände in den Vereinigten Staaten zu konzentrieren, anstatt die aktuellen Lagerbestände zu verkaufen und die Exporte weiter zu steigern", schrieb Granholm und berief sich dabei auf "historisch niedrige Lagerbestände von Benzin und Diesel in Teilen des Landes". Mit anderen Worten: "Amerika zuerst!" Wen überrascht das? Die Europäische Union sollte sicherlich nicht überrascht sein – egal, was man sie zuvor glauben machen wollte.

Die Haltung von Granholm ist weit entfernt von der gemeinsamen Erklärung der EU und der USA im Weißen Haus am 27. Juni, in der die "Zusammenarbeit bei der Suche nach Wegen zur weiteren Reduzierung von Russlands Einnahmen aus Energieexporten" erwähnt wird. Die westlichen Verbündeten behaupten darin, "wichtige Fortschritte bei der Verringerung der Abhängigkeit der Europäischen Union von russischen fossilen Brennstoffen gemacht zu haben, durch Verringerung der Erdgasnachfrage, durch die Kooperation bei der Entwicklung von Technologien zur Energieeffizienz und durch die Diversifizierung der Energieversorgung".

Aber wo steht diese Zusammenarbeit jetzt? Die Wahrheit ist, dass die USA einfach nicht über die Infrastruktur und die Kapazitäten verfügen, um den enormen Bedarf der EU zu decken, und dass sie gleichzeitig mit dem Widerstand von Umweltverbänden konfrontiert sind, die den Ausbau der Infrastruktur erschweren.

Es sind dieselben Gründe, die es dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau nicht möglich gemacht haben, dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz während seines Besuchs in Ottawa Anfang August kanadisches Flüssiggas zu versprechen.

Im Weißen Haus hatte Biden erklärt, dass man "eine Partnerschaft zur Diversifizierung der Energielieferungen nach Europa eingeht" und dass "die Vereinigten Staaten und andere Energieproduzenten ihre Bemühungen dafür verstärkt haben". Und jetzt betritt die US-Energieministerin die Bühne und fordert die US-Energieproduzenten auf, sich hinter der Couch zu verstecken und so zu tun, als wäre niemand zu Hause, während die EU quer über den Globus jettet und hektisch an alle möglichen Türen klopft.

Es ist nachvollziehbar, dass der US-Präsident Joe Biden und seine ganze Demokratische Partei vor den heiklen Zwischenwahlen im kommenden November ihre eigenen politischen Interessen im Auge behalten wollen. Man wird sicherlich keine Treibstoffknappheit im eigenen Land riskieren wollen, um damit der Republikanischen Partei einen Sieg zu bescheren.

Es ist auch alles andere als wirklich unangenehm für Washington, dass man in Brüssel nun ohne billiges russisches Gas ins Schlingern gerät. Lange vor dem Ukraine-Konflikt belegte Washington bereits vor deren Fertigstellung die Gaspipeline Nord Stream 2, die zusätzliches russisches Gas über Deutschland nach Europa transportieren sollte, mit Flüchen und mit Sanktionen. Das besorgniserregende Argument aus Washington war, dass es für die EU nicht vorteilhaft sei, sich in Bezug auf die Energiesicherheit Westeuropas dermaßen abhängig von Russland zu machen. Unter dem Vorwand, Europa angeblich vor sich selbst schützen zu wollen, tat man in Washington sein Bestes, um dieses Projekt zu beenden oder wenigstens zu verzögern. Das Endergebnis war und bleibt natürlich ein wirtschaftlich weniger konkurrenzfähiges Europa, insbesondere zum Vorteil Washingtons im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb.

Russisches Gas, das durch die Pipeline Nord Stream 1 fließt, hat Deutschland mit zum wirtschaftlichen Zentrum der Europäischen Union gemacht und es der EU dadurch ermöglicht, weltweit auf Augenhöhe mit Washington wirtschaftlich zu konkurrieren. Sich auf dieses Gas zu verlassen, war für die EU jahrzehntelang auch nie ein Problem. Es ist jedoch jetzt ein selbstgemachtes Thema, nachdem sich die EU selbst und einseitig von ihrer eigenen Versorgungssicherheit abgeschnitten hat und nun auch noch versucht, dies dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als Schuld in die Schuhe zu schieben.

Putin die Schuld zuschieben zu wollen und die Bürger der EU davon zu überzeugen, dass an allem, was derzeit passiert, Russland schuld sei, ist ungefähr die einzige Chance, die europäische Regierungen noch haben, um den öffentlichen Zorn möglichst umzulenken – angesichts drohender astronomisch hoher Energiepreise und angesichts der Engpässe bei der Versorgung, der Stromausfälle, Rationierungen, Produktionsstopps und der folgenden Deindustrialisierung. Wenn es nicht gelingt, diese tickende Zeitbombe, die Wut der Leidtragenden, zu entschärfen, könnte dies zu inneren Unruhen quer durch die gesamte Europäische Union führen.

Es ist nicht so, dass die EU-Mitgliedsstaaten keine Optionen mehr hätten. Ungarn hat bewiesen, dass es durchaus möglich ist, antirussische Sanktionen im Energiesektor strikt abzulehnen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass diese nicht im besten Interesse der Bevölkerung und Industrie des eigenen Landes sind. 

Ungarn hat seit Beginn des Konflikts nicht nur sogar neue Energieverträge mit Russland abgeschlossen, sondern jetzt auch grünes Licht für den Bau neuer Kernkraftwerke gegeben, die ebenfalls von Russland gebaut werden sollen. Ungarn hat den Mut bewiesen, sich selbst zu retten, während der Rest der EU den Energieverbrauch seinen Bürger diktieren will und ihnen eröffnet, dass man sich "alternativlos" auf Sparmaßnahmen einstellen müsse.

Nachdem ein Großteil der Welt bereits früher diese Erfahrung machen "durfte", dass die USA eine bessere Zukunft für den Zeitpunkt versprechen, wenn alles zuvor Existierende zerstört ist, steht diesmal nun weitgehend Europa kurz davor, zum großen Verlierer zu werden. Washington achtet eben in erster Linie stets auf seine eigenen Interessen, wie der Brief von Jennifer Granholm bestätigt. Die EU sollte endlich erwägen, dasselbe zu tun – bevor es zu spät ist.

Übersetzt aus dem Englischen.

Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite finden man unter rachelmarsden.com

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