Nordamerika

Mexikanisches Patt: Mexikos Wahl – Letzter Nagel im US-Sarg?

Das Jahr 2024 verschnürt mehrere wichtige Wahlen weltweit zu einem Knoten – die abrupte Lösung dieses Knotens könnte einen Weltkrieg entfachen. Einer der Fäden dieses adrigen Geflechts führt in den südlichen Teil Nordamerikas: nach Mexiko. Wen wird Trump dort vorfinden, falls er gewinnt?
Mexikanisches Patt: Mexikos Wahl – Letzter Nagel im US-Sarg?Quelle: www.globallookpress.com © Luis Barron

Von Elem Chintsky

Einige fragten sich, wer wohl die "Frau mit dem Pferdeschwanz" auf dem Titelblatt der britischen (beziehungsweise europäischen) Ausgabe des Economist von Mitte November 2023 ist. Die Frage könnte auch lauten: Wer ist die Frau, die laut dem Economist bald Mexiko regieren soll?

Mittlerweile ist klar, dass es sich um die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum Pardo, handelt. Der Economist lieferte den entscheidenden visuellen Hinweis geradezu synchron in einem separaten Artikel.

Falls Sheinbaum im Juni 2024 den Wahlsieg einfährt, wäre sie nicht nur die erste Frau in Mexikos Geschichte, die das Präsidentenamt bekleidet, sie wäre auch die erste Jüdin an der mexikanischen Staatsspitze.

Kurzer Rückblick für den Kontext

Ungeachtet dessen, ob aus Sicht der Nachwelt der dritte Weltkrieg bereits läuft oder noch nicht, wird immer wieder darüber spekuliert, welche neue Eskalation den unmissverständlichen Indikator für die Identifizierung des Beginns des dritten Weltkrieges in unserer Gegenwart hergeben würde. Jeder weiß mittlerweile, dass ein Eintritt in einen bewaffneten Konflikt durch einen der beiden größten Hegemonen auf der Erde – die Volksrepublik China oder die Vereinigten Staaten von Amerika – als solch ein Indikator angesehen würde. Das gilt besonders – aber nicht nur –, wenn ein enger Bündnispartner des jeweils anderen Hegemons dabei angegriffen oder angreifen würde.

Für Peking stellt das derzeit mit den USA verbündete Taiwan das fragile Pulverfass dar. Wobei für Washington, D.C., eindeutig Israel der wunde Punkt ist, an dem der Komfort eines Stellvertreterkrieges – wie er bisher in der Ukraine gegen Russland geführt wurde – rasant aufgebraucht und eine direkte Verpflichtung und eigene Verausgabung vor Ort anstehen würde. Sobald ein islamischer oder arabischer Staatsakteur – zum Beispiel ein Partner Russlands wie Iran oder Syrien, die jemenitischen Huthis im Roten Meer oder das NATO-Mitglied Türkei – aktiv von Israel in einen größeren Nahost-Krieg hineingezogen würde, wären diese Eintrittsbedingungen für die USA mehr als erfüllt.

Die USA haben aber noch einen weiteren verwundbaren, nicht so kleingedruckten Punkt, den man versucht in einer ganz anderen innenpolitischen Diskussionsdomäne zu halten – als ob er mit all dem Rest, der auf der Welt geschieht, nichts zu tun hätte: Mexiko. Über 73 Prozent seiner Staatsgrenze teilt sich das Land mit den USA. Donald Trump wurde 2016 unter anderem deshalb zum Präsidenten gewählt, weil er die US-mexikanische Grenze für illegale Migration, Menschen- und vor allem Drogenhandel dichtzumachen versprach. Während seiner Amtszeit baute er zwar seine berüchtigte "Mauer", aber all diese Mühe wurde von dem demokratischen Präsidenten Joe Biden ab Anfang 2021 rasch wieder zunichtegemacht. Die Grenze ist seit einigen Jahren de facto wieder offen – allein für das Jahr 2023 schätzt man bis zu 300.000 illegale Einwanderer, die vom mexikanischen Territorium aus in die USA gelangt sind. Diesen Aspekt beleuchten wir zuletzt, da hier der kritische Punkt verborgen ist.

Economist verteilt Brotkrümel als Analyse-Festmahl

Die US-amerikanische Ausgabe des Economist mit dem Titel "The World Ahead 2024" (deutsch: "Die Welt im Jahr 2024") zeigt die Erdkugel, die zur Hälfte von der markanten Silhouette des ehemaligen US-Präsidenten Donald J. Trump überschattet ist. Die verdunkelte Hälfte umfasst die Kontinente Afrika, Europa, Asien und Australien – der Rest badet im Sonnenlicht. Wie anfangs bereits erwähnt, das Titelblatt derselben, aber britisch-europäischen Ausgabe hat eine etwas komplexere, verkopftere Gestaltung. Die Grafik zeigt viele Elemente mit dualistischen Gegenüberstellungen – in Farben und Symbolen: Einerseits Putin (blau) im Kontrast zu Selenskij (rot) – beide einander feindlich zugewandt; andererseits, jeweils voneinander abgewandt, Xi (rot) und Biden (blau).

Claudia Sheinbaums Silhouette – als das Profil der "Frau mit Pferdeschwanz" – ist kleiner und direkt über dem Profil von Selenskij verortet. Gegenüber Sheinbaum ist über Putins Abbild die Silhouette Trumps zu sehen – mit einem Fragezeichen, welches man sich bei Sheinbaum spart. Der Economist identifiziert demnach die mexikanischen und US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen dieses Jahr zweifelsohne als die wichtigsten regulären Polit-Ereignisse.

Bereits weiter oben wurde erwähnt, dass Sheinbaum der erste jüdische Mensch im mexikanischen Präsidialamt sein wird – dies gilt für den schon seit 2019 amtierenden Selenskij und die Ukraine genauso. Neben dieser Gemeinsamkeit ist auch die geostrategische Lage beider Länder ähnlich. Wie die Ukraine eine intime, geopolitische, für Russland Sicherheitspolitik gefährdende Positionierung innehat, gilt dasselbe für die USA mit dem Nachbarn Mexiko. Anders als Moskau war Washington, D.C., aber – noch nicht – mit einer "abrupten Eskalation" konfrontiert. Der Economist lässt in seiner Collage auch keinen US-mexikanischen Konflikt vermuten.

Mexikos interne Polit-Küche

Die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Sheinbaum, wurde von ihrer Partei-Koalition bereits im September 2023 für das Präsidentschaftsrennen nominiert – wenige Monate vorher hatte sie ihr Amt als Bürgermeisterin der Hauptstadt niedergelegt.

Sheinbaums Rivalin ist die Geschäftsfrau Xóchitl Gálvez – ehemalige Senatorin der rechtszentristischen "Partei der Nationalen Aktion" (PAN) bis 2021 –, die seitdem der sozialdemokratischen "Partei der demokratischen Revolution" (PRD) angehört. Die PRD und die PAN bilden eine große politische Koalition namens "Stärke und Herz für Mexiko", die Gálvez als Kandidatin gegen Sheinbaum aufgestellt hat. Wie man es auch dreht – Mexiko erhält dieses Jahr mit statistischer Gewissheit seine erste Frau im Präsidentenamt.

Sheinbaums Partei hingegen ist gleichzeitig die des amtierenden Präsidenten Mexikos, Andrés Manuel López Obrador: Movimiento Regeneración Nacional (MORENA), zu Deutsch: Bewegung der nationalen Erneuerung. Die MORENA könnte, ähnlich wie die verfeindete PRD, als "sozialdemokratisch" angesehen werden, wird aber aufgrund starker Tendenzen zum Linksnationalismus auch von vielen Beobachtern gleichzeitig als "anti-neoliberal" verstanden – was man zum Beispiel der deutschen SPD kaum vorwerfen könnte.

Als Obrador mit der sieben Jahre zuvor gegründeten MORENA 2018 die Wahlen gewann, ging die fast hundert Jahre währende Dominanz zwischen den zwei anderen alten Volksparteien Mexikos zu Ende. Obradors Amtszeit war von Trotz gegenüber dem strategischen US-Nachbarn im Norden gekennzeichnet – dabei auf nationale Selbstbestimmung pochend. Das ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass dieser Antagonismus mit Bidens "progressiv-gemäßigter" Amtszeit nicht wirklich schwächer wurde.

Sheinbaum gilt als Zögling Obradors, der laut mexikanischer Verfassung ohnehin nur eine Amtszeit von höchstens sechs Jahren haben kann. Wie Obradors politische Laufbahn verlief auch Sheinbaums Karriere durch die mexikanische Hauptstadt: Beide waren ihre Bürgermeister. Obrador regierte von 2000 bis 2005, Sheinbaum von 2018 bis 2023. Jüngste Umfragewerte sehen Sheinbaum bei 60 Prozent.

Der mexikanische Elefant an der Grenze 

Genauso gut könnte es heißen: "Der Elefant der Republikanischen Partei an der mexikanischen Grenze". Denn das ganze letzte Jahr über war die Rhetorik der US-Politiker der Republikanischen Partei für manche verblüffend aggressiv gegenüber Mexiko – bis hin zu Aufrufen zur Invasion oder "militärischen Operation" gegen den südlichen Nachbarn. Diese offensivere sicherheitspolitische Ausrichtung wurde auch weitestgehend ohne Trumps Leitung oder Anweisung geäußert. Es gibt jedoch eine Ratio, die das alles plausibel erscheinen lässt: die Drogenkartelle Mexikos, welche einen verbrecherischen "Staat im Staat" bilden.

Der Trotz Obradors gegenüber Washington, D.C., (unter Trump genauso wie unter Biden) ist am besten zu erkennen in der offensichtlichen Verweigerung und Unfähigkeit, den USA bei der Bekämpfung und Eindämmung der eigenen Fentanyl-Drogenepidemie behilflich zu sein. In den vergangenen Jahren wuchs die US-Sterberate infolge von Fentanyl-Überdosen dramatisch – allein im Jahr 2021 gab es über 70.600 Opfer. Fentanyl ist ein stark abhängig machendes, synthetisches Opioid, das 50- bis 100-mal potenter ist als Heroin beziehungsweise Morphin. Gleichzeitig sind die Produktionskosten dramatisch niedriger als bei den meisten anderen Drogen. Mittlerweile gelangt die große Mehrheit illegalen Fentanyls über die Drogenhandelsrouten aus Mexiko in die USA und Kanada, welche den größten Absatzmarkt für die mexikanischen Kartelle darstellen. Die Rede ist von einem jährlichen Handelsvolumen, das auf mindestens 13, sehr oft sogar 50, von manchen US-Politikern sogar auf 500 Milliarden US-Dollar geschätzt wird.

Peking und Washington, D.C., haben in den zurückliegenden Jahren einander nur wenige Schnittmengen für Kooperation übrig gelassen. Eine von ihnen, in der Peking sich entgegenkommend und einsichtig zeigte, war die internationale Regulierung der Zutaten für klassisches Fentanyl und seine neuen hybriden Varianten. Für die weltweite Pharmaindustrie ist China der größte Lieferant der wichtigsten Fentanyl-Zutaten. Denn seinen großen Anfang nahm der illegale Fentanyl-Handel am Pazifik, mit Ursprung in China.

Als China mit neuer Strenge den Missbrauch der eigenen Handelsrouten zu unterbinden begann, sah sich Mexiko, das territorial zur Hälfte von übermächtigen Drogenkartellen regiert wird, schnell als neuer Umschlagplatz für die Mischung, die Anpassung neuer Chemieformeln, die logistische Abfertigung und den Export von illegalem Fentanyl. Die Kartelle kontrollieren die heute größte Handelsroute von Fentanyl und Fentanyl ähnlichen Synthetik-Drogen in die USA – ganz abgesehen von den klassischen Drogen. Die von Biden offen gehaltene Grenze ist wie ein Freifahrtschein für diesen Prozess. Aus US-republikanischer Perspektive macht es kaum einen Unterschied, wer in Mexiko-Stadt das Regieren übernimmt – die Kartelle mit ihrer einschüchternden, pathologischen Gewaltkultur und effektiven Korruptionsstrategien innerhalb der mexikanischen Staatsinstitutionen werden immer stärker.

Die von den neoliberalen und neokonservativen US-Eliten eingeleiteten Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump scheiterten seinerzeit. Indessen wurde gegen Trump Anklage erhoben – alles, um ihn rechtzeitig von der nächsten Wahl ausgrenzen zu können. Falls diese Torschlusspanik-Methoden weiterhin missglücken und Trump sich gegen die perfideste Form bis zum Wahlergebnis zu schützen und in Acht zu nehmen schafft – nämlich einem Attentatsversuch gegen ihn –, dann wird er ein zweites Mal Staatspräsident der USA und wird unter anderem strenges Augenmerk auf sein politisches Sorgenkind legen – die US-mexikanische Grenze. Wenn sogar US-Republikaner, die gemäßigter sind als Donald Trump, für eine militärische Lösung des Drogenkartell-Problems Mexikos plädieren, ist es nicht weit hergeholt zu erwarten, dass Trump selbst genau diese Lösung einleiten würde. Es wäre sicherlich kein Spaziergang für die involvierten US-Streitkräfte. Der größte Teil der nördlichen und zentralen Gebiete des lateinamerikanischen Nachbarn liegt in großen, gebirgigen Höhenlagen – militärgeschichtlich nicht gerade eine US-Spezialität.

Dabei wird auch eine große Rolle spielen, ob zu dem Zeitpunkt die geopolitischen US-Pulverfässer Taiwan und Israel deeskaliert worden sind. Im Hinblick auf die derzeitige "Biden-Doktrin" ist das ausgesprochen unwahrscheinlich.

Außerdem hängt einiges davon ab, wie entgegenkommend Claudia Sheinbaum ihrem nördlichen Amtskollegen gegenüber wäre. Sie hätte einen Vorsprung von einem halben Jahr, um ein effektives, beschwichtigendes Angebot an den dann frisch vereidigten US-Präsidenten Trump zu richten.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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